09.06.2003, 15:29
Half-Life 2 ist so etwas wie der Action-Messias: Trotz Mangels an Beweisen glaubten viele Anhänger unerschütterlich an seine Existenz. Obwohl es völlig ungewiss war, wann der Tag der Erlösung kommen würde. Doch jetzt künden berufene Propheten, dass es wahrscheinlich nur noch sechs Monate dauern wird, bis Gordon Freeman wieder auf Erden wandelt.
Programmierteam Valve werkelte die letzten vier Jahre unter strengster Geheimhaltung am Nachfolger eines der erfolgreichsten und einflussreichsten Spiele der PC-Geschichte. Offiziell wird Half-Life 2 erst Mitte Mai auf der Fachmesse E3 der Öffentlichkeit vorgestellt, doch wir reisten vorab zur Enthüllungs-Audienz bei Valve.
Invasion auf vollen Touren
Die Story ist einige Jahre nach den Geschehnissen von Half-Life angesiedelt. Gordon Freeman ist zurück - und mit ihm die Monster aus einer fremden Dimension. Was sich genau zwischen beiden Episoden in der Handlung entwickelt hat, wird erst während des neuen Spiels langsam enthüllt.
Vertraute und neue Gruselviecher turnen in einem Ausmaße auf Erden herum, gegen das die Geschehnisse von Black Mesa wie ein Frühlingsspaziergang anmuten. "Die Invasion der Aliens findet jetzt in einem weitaus größeren Rahmen statt - und im Spielverlauf wird es immer schlimmer", deutet Valve-Sprecher Doug Lombardi düster an.
Zentraler Schauplatz ist die fiktive europäische Stadt City 17, in der sich Monster in allen Kragenweiten ebenso tummeln wie die Combine Soldiers, eine mysteriöse (und Gordon feindlich gesinnte) Schutztruppe. Die Story ist in zwölf Kapitel unterteilt, die jeweils etwa drei bis vier Stunden Spieldauer bieten sollen. Der Umfang wäre damit etwa mit dem ersten Half-Life (dt.) vergleichbar. Story-Fortschritte sollen etwas gleichmäßiger eingestreut werden als beim Vorgänger. Valve bleibt sich treu, was den Verzicht auf Zwischensequenzen angeht: Tatenloses Zugucken ist verpönt, alle Handlungselemente sind ins Gameplay integriert.
Freie Fahrt für Freeman
Gordon hat den Führerschein gemacht: In einigen Abschnitten werden Sie vorübergehend ein Vehikel steuern. Dabei bleibt man in diesem Spiel auf dem Boden der Tatsache. Für zukünftige Titel wäre die Engine auch in der Lage, fliegende Transportmittel zu integrieren. In der Waffenkammer wird man sowohl einige alte Bekannte aus Half-Life als auch völlig neue Ballermänner finden. Valve strebt wieder einen Mix aus realistischen Schießprügeln und Experimental-Waffen an. In letztere Kategorie gehört zum Beispiel der Manipulator, eine Art Energiestrahl, mit dem Sie Objekte aus der Entfernung bewegen können.
Noch stärker als im Vorgänger wird die Kooperation mit anderen befreundeten Spielfiguren betont. Dabei steuern Sie stets Meister Freeman, der alte und neue Verbündete trifft.
Zum Beispiel Wachmann Barney, Wissenschaftler Eli Vance und vor allem dessen liebreizende Tochter Alyx, welche neben Gordon die zentrale Figur der Story ist. Alyx entpuppt sich als Mechaniktalent und wird stellenweise von ihrem Selbstbau-Roboter Dog begleitet, der entgegen seines Schoßhündchen-Namens eine ziemlich große, fies wirkende Metallansammlung ist.
Eigenbau-Engine
Valve begann bereits kurz nach der Veröffentlichung von Half-Life (dt.) mit der Arbeit an der Fortsetzung. Dass es ein Weilchen gedauert hat, lag vor allem an der Entwicklung einer funkelnagelneuen Engine namens V-Source, während der Vorgänger noch auf einem Quake-2-Fundament basierte. Valve-Boss Gabe Newell: "Wir haben keine Probleme damit, die Technologie anderer Leute zu verwenden, sofern es Sinn macht.
Es war klasse, mit den id-Leuten zusammenzuarbeiten - Carmack ist ein Gott! Aber als wir die Dinge betrachteten, die wir mit Half-Life 2 erreichen wollten, wurde uns klar: Wir mussten eine Reihe von Problemen angehen, die noch kein anderer Spieleentwickler gelöst hatte." Newell meint weniger gewöhnliche Verbesserungen wie aufgehübschte Grafik mit inflationären Polygon-Counts, ihm kommt es vor allem auf eine plausible Spielwelt an. "Kriegen wir die Zusammenarbeit von Künstlicher Intelligenz und Physik-System so hin, dass die Kreaturen wissen, wie sie am besten die Physik ausnutzen, um sich durch die Spielwelt zu bewegen, Objekte zu manipulieren und gegen den Spieler einzusetzen? Schaffen wir es, dass die Physik die Bewegungen der Charaktere und das Animations-System direkt beeinflusst?" nennt er die größten Knackpunkte bei der Entwicklung.
Ein raffinierter Kniff der V-Source-Engine: Die physikalischen Eigenschaften sind in den einzelnen Texturen definiert. Das macht es für Mod-Autoren leicht, bei selbstgemachten Levels automatisch korrekte Physik-Effekte zu erzielen. Das Umkippen eines Fasses bringt zum Beispiel die umstehenden Objekte millimetergenau ins Wanken. Beim Zerschießen einer Holztür splittern die einzelnen Bretter je nach anvisierter Stelle unterschiedlich ab. Eine Gasflasche wird ins Rollen versetzt, langsam kullert sie auf dem Boden einem Monster entgegen und verströmt auf Beschuss ihren Inhalt. Fallende Gegner prallen realistisch an Hindernissen ab - und so weiter.
KI im Kontext
Mit seinen geskripteten Sequenzen hat Halfe-Life (dt.) das Action-Genre einschneidend geprägt. Egal, ob Medal of Honor: Allied Assault (dt.) oder Unreal 2, kaum ein Shooter kommt mehr ohne kleine, vordefinierte Inszenierungen aus. Gabe Newell hält solche unflexiblen Aufregungsmomente, die lediglich durch den Spieler getriggert, aber nicht beeinflusst werden, inzwischen für überholt: "In Half-Life (dt.) passierten viele interessante Dinge im Prinzip hinter einer gläsernen Wand. Du konntest durchsehen und mitkriegen, was auf der anderen Seite passiert. Wir versuchten, es möglich gut zu kaschieren, aber unser Gefühl war, dass wir davon abkommen müssen."
Bei Half-Life 2 sorgen Künstliche Intelligenz, Physik und Detaillevel der Spielwelt dafür, dass solche Momente dynamisch entstehen und nicht fest vorgeschrieben werden müssen. "Kontextuelle Künstliche Intelligenz" nennt Gabe Newell das Resultat der KI-Bemühungen. Freund und Feind haben ein besseres Verständnis für die Spielwelt, können auch klettern und agieren sinnvoll mit der Umgebung.
In einer Szene haben wir uns in einem Raum vor einem Monster versteckt und die Tür geschlossen. Der Verfolger verharrt zunächst vor der Tür und stößt dann seine Faust durch deren Fenster, um sie schließlich zu öffnen. "Das ist keine geskriptete Sequenz", erklärt Gabe, "Der KI-Programmcode kommuniziert quasi mit der Spielwelt und fragt: ¿Ist da irgendwas Interessantes, was ich hier tun könnte?' Dadurch kannst du interessante Ereignisse erzeugen, die nur eintreten, wenn der Zustand der Kreatur und die Aktionen des Spielers sie erlauben."
Weiteres Beispiel gefällig? In einem Level sind wir auf der Flucht vor einem Antlion-Boss und rennen dabei an einem Trupp Combine Soldiers vorbei. Das Monster erkennt diese Soldaten als die größere Gefahr und greift jetzt deren Panzer an. Die ersten Rammversuche bringen das Gefährt ins Wackeln, bis es schließlich umkippt. Die Soldaten haben inzwischen Luftunterstützung angefordert, ein Schwebegleiter nimmt den Antlion unter Beschuss. Sieht aus wie eine geniale Skript-Sequenz, entsteht aber durch KI-Eigeninitiative und realistische Spielwelt-Physik.
Die V-Source-Engine ist besonders gut auf die User-Hardware skalierbar. Die Minimum-Anforderung von Half-Life 2 soll etwa bei einer 700-MHz-CPU mit einer DirectX7-Grafikkarte liegen, also Leistungsklasse TNT aufwärts (dann natürlich mit reduzierten Details und Features). Andererseits nutzt die Engine die neuesten grafiktechnischen Errungenschaften von DirectX9 aus. Valve betont den modularen Aufbau, der es auch erlauben soll, zukünftige Hardware-Entwicklungen voll auszureizen. Bei unserem Besuch sahen wir die Spiel-Levels konkret auf einem 2-GHz-System mit GeForce-3-Karte, in dieser Konfiguration wirkt die Grafik fantastisch. Interessant: Andere Entwickler können die V-Source-Engine lizenzieren, die ersten (noch nicht näher identifizierten) Projekte sind damit bereits außerhalb von Valve in Arbeit.
Betörende Augenblicke
Half-Life 2 wird Ihnen schöne Augen machen - im wahrsten Sinne des Wortes. Erstmals schafft es ein Computerspiel, dermaßen glaubhafte Charaktere mit realistischen Gesichtszügen zu inszenieren, dass man sich regelrecht beobachtet fühlt. Als Alyx uns zum ersten Mal mustert, dann den Kopf dreht und uns schließlich aus den Augenwinkeln heraus anlinst, wird uns richtig warm ums Herz.
Möglich wird's durch ausgefeilte Grafiktechnik (spezielle Shader verleihen den Augen einen lebendigen Glanz) und viel Recherche. Die verblüffende Gesichtsmimik basiert auf rund 25 verschiedenen Ausdrucksarten, die fließend ineinander übergehen. Das Ganze ist technisch so irre gemacht, dass zum Beispiel Skepsis, Aggressivität, Ironie oder naserümpfende Abfälligkeit einer Spielfigur durch den Gesichtsausdruck sofort rüberkommen. Die lebensechte Anmutung beschränkt sich nicht nur auf die Gesichter. Für realistisch aussehenden Körper-Einsatz sorgt ein Skelett-System, das mit einer Muskulatur-Simulation ausgestattet ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich bestimmte Bewegungen der Arme auch auf den Brustkorb auswirken.
Das Resultat der grafischen Bemühungen: Die Engine packt Detailfülle und Atmosphäre mitten in den Spielablauf, wie man sie bislang nur von vorgerenderten Zwischensequenzen kannte. In einer Szene fliehen wir Alyx folgend in einen Kanalschacht. Dort angekommen registrieren wir, wie sie über uns hinweg sieht und dabei plötzlich einen entsetzten Gesichtsausdruck annimmt. Schnell drehen wir uns um und erkennen den Grund für ihre Panik: Hinter unserem Rücken schnellt ein Tentakel aus dem Wasser, das einen nahe stehenden Soldaten schnappt.
Neue Monster-Dimension
Von eher grausiger Schönheit ist das Monster-Arsenal. Manches lieb gewonnene Kanonenfutter aus dem Vorgänger lässt sich in neuem grafischen Glanz erneut blicken. Headcrab und halb mutierte Zombies tauchen in jeweils drei Variationen auf.
Zu den neuen Gegnern gehören die Antlions, extrem agile Wuselmonster, die sich blitzartig aus dem Erdreich graben und mit schnellen Sprüngen angreifen. Besonders lästig ist deren größere Boss-Variante. Die oft in Gruppen operierenden Combine Soldiers sind vor allem durch Teamwork gefährlich und können Verstärkung anfordern. Außerdem sahen wir schwebende Überwachungs-Einheiten, ein Metall-Skelett mit Laserattacke und unseren vorläufigen Liebling, den Strider. Dieses rund 25 Meter hohe Riesenvieh stakst in einem Level auf dünnen, stelzenartigen Beinen durch City 17 und demoliert dabei einzelne Gebäude.
Wir bekamen bei unserer Valve-Visite weitere Schauplätze zu Gesicht. Ausgesprochen gruselig verläuft ein Spaziergang entlang eines blutverschmierten Bootstegs, Leichen treiben im atemberaubend echt wirkenden Wasser, herumschwirrende Krähen perfektionieren die düstere "Hier ist irgendwas Übles passiert und ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass ich gleich hineinstolpern werde"-Stimmung.
An Bord eines Eisbrechers arbeitet man sich an lodernden Feuern entlang zum Maschinenraum vor, bestaunt dabei die Partikel-Effekte von Qualm und Dampf. In einem halbdunklen Raum kommen wir an einigen Haken vorbei, an denen wenig appetitliche Dinge baumeln. Kurz darauf schlurft eine Rudel Zombie-Mutanten aus allen möglichen Richtungen auf uns zu. Außerdem erleben wir in einem Gefängnis Schießereien mit Combine Soldiers, auch dieser Level hat seinen eigenen, metallisch-schmuddeligen Charakter. Die meiste Zeit sind Sie in Gebäuden unterwegs, es soll aber unterm Strich mehr Außen-Levels geben als im Vorgänger.
Von den angestrebten Qualitäten des Über-Shooters werden Sie sich relativ bald überzeugen können. Die Engine ist seit letztem Herbst fertig, derzeit sitzt das Team vor allem am Level-Feinschliff. Bis Juli soll Half-Life 2 Beta-Status erreichen, der angestrebte Veröffentlichungstermin im Oktober oder November riecht nicht unrealistisch.
Quelle: PC-Games 6/2003
Bildergallerie
Programmierteam Valve werkelte die letzten vier Jahre unter strengster Geheimhaltung am Nachfolger eines der erfolgreichsten und einflussreichsten Spiele der PC-Geschichte. Offiziell wird Half-Life 2 erst Mitte Mai auf der Fachmesse E3 der Öffentlichkeit vorgestellt, doch wir reisten vorab zur Enthüllungs-Audienz bei Valve.
Invasion auf vollen Touren
Die Story ist einige Jahre nach den Geschehnissen von Half-Life angesiedelt. Gordon Freeman ist zurück - und mit ihm die Monster aus einer fremden Dimension. Was sich genau zwischen beiden Episoden in der Handlung entwickelt hat, wird erst während des neuen Spiels langsam enthüllt.
Vertraute und neue Gruselviecher turnen in einem Ausmaße auf Erden herum, gegen das die Geschehnisse von Black Mesa wie ein Frühlingsspaziergang anmuten. "Die Invasion der Aliens findet jetzt in einem weitaus größeren Rahmen statt - und im Spielverlauf wird es immer schlimmer", deutet Valve-Sprecher Doug Lombardi düster an.
Zentraler Schauplatz ist die fiktive europäische Stadt City 17, in der sich Monster in allen Kragenweiten ebenso tummeln wie die Combine Soldiers, eine mysteriöse (und Gordon feindlich gesinnte) Schutztruppe. Die Story ist in zwölf Kapitel unterteilt, die jeweils etwa drei bis vier Stunden Spieldauer bieten sollen. Der Umfang wäre damit etwa mit dem ersten Half-Life (dt.) vergleichbar. Story-Fortschritte sollen etwas gleichmäßiger eingestreut werden als beim Vorgänger. Valve bleibt sich treu, was den Verzicht auf Zwischensequenzen angeht: Tatenloses Zugucken ist verpönt, alle Handlungselemente sind ins Gameplay integriert.
Freie Fahrt für Freeman
Gordon hat den Führerschein gemacht: In einigen Abschnitten werden Sie vorübergehend ein Vehikel steuern. Dabei bleibt man in diesem Spiel auf dem Boden der Tatsache. Für zukünftige Titel wäre die Engine auch in der Lage, fliegende Transportmittel zu integrieren. In der Waffenkammer wird man sowohl einige alte Bekannte aus Half-Life als auch völlig neue Ballermänner finden. Valve strebt wieder einen Mix aus realistischen Schießprügeln und Experimental-Waffen an. In letztere Kategorie gehört zum Beispiel der Manipulator, eine Art Energiestrahl, mit dem Sie Objekte aus der Entfernung bewegen können.
Noch stärker als im Vorgänger wird die Kooperation mit anderen befreundeten Spielfiguren betont. Dabei steuern Sie stets Meister Freeman, der alte und neue Verbündete trifft.
Zum Beispiel Wachmann Barney, Wissenschaftler Eli Vance und vor allem dessen liebreizende Tochter Alyx, welche neben Gordon die zentrale Figur der Story ist. Alyx entpuppt sich als Mechaniktalent und wird stellenweise von ihrem Selbstbau-Roboter Dog begleitet, der entgegen seines Schoßhündchen-Namens eine ziemlich große, fies wirkende Metallansammlung ist.
Eigenbau-Engine
Valve begann bereits kurz nach der Veröffentlichung von Half-Life (dt.) mit der Arbeit an der Fortsetzung. Dass es ein Weilchen gedauert hat, lag vor allem an der Entwicklung einer funkelnagelneuen Engine namens V-Source, während der Vorgänger noch auf einem Quake-2-Fundament basierte. Valve-Boss Gabe Newell: "Wir haben keine Probleme damit, die Technologie anderer Leute zu verwenden, sofern es Sinn macht.
Es war klasse, mit den id-Leuten zusammenzuarbeiten - Carmack ist ein Gott! Aber als wir die Dinge betrachteten, die wir mit Half-Life 2 erreichen wollten, wurde uns klar: Wir mussten eine Reihe von Problemen angehen, die noch kein anderer Spieleentwickler gelöst hatte." Newell meint weniger gewöhnliche Verbesserungen wie aufgehübschte Grafik mit inflationären Polygon-Counts, ihm kommt es vor allem auf eine plausible Spielwelt an. "Kriegen wir die Zusammenarbeit von Künstlicher Intelligenz und Physik-System so hin, dass die Kreaturen wissen, wie sie am besten die Physik ausnutzen, um sich durch die Spielwelt zu bewegen, Objekte zu manipulieren und gegen den Spieler einzusetzen? Schaffen wir es, dass die Physik die Bewegungen der Charaktere und das Animations-System direkt beeinflusst?" nennt er die größten Knackpunkte bei der Entwicklung.
Ein raffinierter Kniff der V-Source-Engine: Die physikalischen Eigenschaften sind in den einzelnen Texturen definiert. Das macht es für Mod-Autoren leicht, bei selbstgemachten Levels automatisch korrekte Physik-Effekte zu erzielen. Das Umkippen eines Fasses bringt zum Beispiel die umstehenden Objekte millimetergenau ins Wanken. Beim Zerschießen einer Holztür splittern die einzelnen Bretter je nach anvisierter Stelle unterschiedlich ab. Eine Gasflasche wird ins Rollen versetzt, langsam kullert sie auf dem Boden einem Monster entgegen und verströmt auf Beschuss ihren Inhalt. Fallende Gegner prallen realistisch an Hindernissen ab - und so weiter.
KI im Kontext
Mit seinen geskripteten Sequenzen hat Halfe-Life (dt.) das Action-Genre einschneidend geprägt. Egal, ob Medal of Honor: Allied Assault (dt.) oder Unreal 2, kaum ein Shooter kommt mehr ohne kleine, vordefinierte Inszenierungen aus. Gabe Newell hält solche unflexiblen Aufregungsmomente, die lediglich durch den Spieler getriggert, aber nicht beeinflusst werden, inzwischen für überholt: "In Half-Life (dt.) passierten viele interessante Dinge im Prinzip hinter einer gläsernen Wand. Du konntest durchsehen und mitkriegen, was auf der anderen Seite passiert. Wir versuchten, es möglich gut zu kaschieren, aber unser Gefühl war, dass wir davon abkommen müssen."
Bei Half-Life 2 sorgen Künstliche Intelligenz, Physik und Detaillevel der Spielwelt dafür, dass solche Momente dynamisch entstehen und nicht fest vorgeschrieben werden müssen. "Kontextuelle Künstliche Intelligenz" nennt Gabe Newell das Resultat der KI-Bemühungen. Freund und Feind haben ein besseres Verständnis für die Spielwelt, können auch klettern und agieren sinnvoll mit der Umgebung.
In einer Szene haben wir uns in einem Raum vor einem Monster versteckt und die Tür geschlossen. Der Verfolger verharrt zunächst vor der Tür und stößt dann seine Faust durch deren Fenster, um sie schließlich zu öffnen. "Das ist keine geskriptete Sequenz", erklärt Gabe, "Der KI-Programmcode kommuniziert quasi mit der Spielwelt und fragt: ¿Ist da irgendwas Interessantes, was ich hier tun könnte?' Dadurch kannst du interessante Ereignisse erzeugen, die nur eintreten, wenn der Zustand der Kreatur und die Aktionen des Spielers sie erlauben."
Weiteres Beispiel gefällig? In einem Level sind wir auf der Flucht vor einem Antlion-Boss und rennen dabei an einem Trupp Combine Soldiers vorbei. Das Monster erkennt diese Soldaten als die größere Gefahr und greift jetzt deren Panzer an. Die ersten Rammversuche bringen das Gefährt ins Wackeln, bis es schließlich umkippt. Die Soldaten haben inzwischen Luftunterstützung angefordert, ein Schwebegleiter nimmt den Antlion unter Beschuss. Sieht aus wie eine geniale Skript-Sequenz, entsteht aber durch KI-Eigeninitiative und realistische Spielwelt-Physik.
Die V-Source-Engine ist besonders gut auf die User-Hardware skalierbar. Die Minimum-Anforderung von Half-Life 2 soll etwa bei einer 700-MHz-CPU mit einer DirectX7-Grafikkarte liegen, also Leistungsklasse TNT aufwärts (dann natürlich mit reduzierten Details und Features). Andererseits nutzt die Engine die neuesten grafiktechnischen Errungenschaften von DirectX9 aus. Valve betont den modularen Aufbau, der es auch erlauben soll, zukünftige Hardware-Entwicklungen voll auszureizen. Bei unserem Besuch sahen wir die Spiel-Levels konkret auf einem 2-GHz-System mit GeForce-3-Karte, in dieser Konfiguration wirkt die Grafik fantastisch. Interessant: Andere Entwickler können die V-Source-Engine lizenzieren, die ersten (noch nicht näher identifizierten) Projekte sind damit bereits außerhalb von Valve in Arbeit.
Betörende Augenblicke
Half-Life 2 wird Ihnen schöne Augen machen - im wahrsten Sinne des Wortes. Erstmals schafft es ein Computerspiel, dermaßen glaubhafte Charaktere mit realistischen Gesichtszügen zu inszenieren, dass man sich regelrecht beobachtet fühlt. Als Alyx uns zum ersten Mal mustert, dann den Kopf dreht und uns schließlich aus den Augenwinkeln heraus anlinst, wird uns richtig warm ums Herz.
Möglich wird's durch ausgefeilte Grafiktechnik (spezielle Shader verleihen den Augen einen lebendigen Glanz) und viel Recherche. Die verblüffende Gesichtsmimik basiert auf rund 25 verschiedenen Ausdrucksarten, die fließend ineinander übergehen. Das Ganze ist technisch so irre gemacht, dass zum Beispiel Skepsis, Aggressivität, Ironie oder naserümpfende Abfälligkeit einer Spielfigur durch den Gesichtsausdruck sofort rüberkommen. Die lebensechte Anmutung beschränkt sich nicht nur auf die Gesichter. Für realistisch aussehenden Körper-Einsatz sorgt ein Skelett-System, das mit einer Muskulatur-Simulation ausgestattet ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass sich bestimmte Bewegungen der Arme auch auf den Brustkorb auswirken.
Das Resultat der grafischen Bemühungen: Die Engine packt Detailfülle und Atmosphäre mitten in den Spielablauf, wie man sie bislang nur von vorgerenderten Zwischensequenzen kannte. In einer Szene fliehen wir Alyx folgend in einen Kanalschacht. Dort angekommen registrieren wir, wie sie über uns hinweg sieht und dabei plötzlich einen entsetzten Gesichtsausdruck annimmt. Schnell drehen wir uns um und erkennen den Grund für ihre Panik: Hinter unserem Rücken schnellt ein Tentakel aus dem Wasser, das einen nahe stehenden Soldaten schnappt.
Neue Monster-Dimension
Von eher grausiger Schönheit ist das Monster-Arsenal. Manches lieb gewonnene Kanonenfutter aus dem Vorgänger lässt sich in neuem grafischen Glanz erneut blicken. Headcrab und halb mutierte Zombies tauchen in jeweils drei Variationen auf.
Zu den neuen Gegnern gehören die Antlions, extrem agile Wuselmonster, die sich blitzartig aus dem Erdreich graben und mit schnellen Sprüngen angreifen. Besonders lästig ist deren größere Boss-Variante. Die oft in Gruppen operierenden Combine Soldiers sind vor allem durch Teamwork gefährlich und können Verstärkung anfordern. Außerdem sahen wir schwebende Überwachungs-Einheiten, ein Metall-Skelett mit Laserattacke und unseren vorläufigen Liebling, den Strider. Dieses rund 25 Meter hohe Riesenvieh stakst in einem Level auf dünnen, stelzenartigen Beinen durch City 17 und demoliert dabei einzelne Gebäude.
Wir bekamen bei unserer Valve-Visite weitere Schauplätze zu Gesicht. Ausgesprochen gruselig verläuft ein Spaziergang entlang eines blutverschmierten Bootstegs, Leichen treiben im atemberaubend echt wirkenden Wasser, herumschwirrende Krähen perfektionieren die düstere "Hier ist irgendwas Übles passiert und ich werde das dumpfe Gefühl nicht los, dass ich gleich hineinstolpern werde"-Stimmung.
An Bord eines Eisbrechers arbeitet man sich an lodernden Feuern entlang zum Maschinenraum vor, bestaunt dabei die Partikel-Effekte von Qualm und Dampf. In einem halbdunklen Raum kommen wir an einigen Haken vorbei, an denen wenig appetitliche Dinge baumeln. Kurz darauf schlurft eine Rudel Zombie-Mutanten aus allen möglichen Richtungen auf uns zu. Außerdem erleben wir in einem Gefängnis Schießereien mit Combine Soldiers, auch dieser Level hat seinen eigenen, metallisch-schmuddeligen Charakter. Die meiste Zeit sind Sie in Gebäuden unterwegs, es soll aber unterm Strich mehr Außen-Levels geben als im Vorgänger.
Von den angestrebten Qualitäten des Über-Shooters werden Sie sich relativ bald überzeugen können. Die Engine ist seit letztem Herbst fertig, derzeit sitzt das Team vor allem am Level-Feinschliff. Bis Juli soll Half-Life 2 Beta-Status erreichen, der angestrebte Veröffentlichungstermin im Oktober oder November riecht nicht unrealistisch.
Quelle: PC-Games 6/2003
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